Al Nakba: Die Vertreibung der Palästinenser — Eine Reise durch israelische Archive

Occupied News
17 min readMay 12, 2022

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Dieser Artikel befasst sich mit der Historizität der Nakba — der gewaltsamen Vertreibung von 800.000 Palästinenser:innen aus dem Gebiet des heutigen Israel durch zionistische Milizen im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948. Er thematisiert somit die Wurzel des sogenannten “Nahostkonflikts”. In diesem Artikel wird an Hand von israelischem Archivmaterial gezeigt, dass die Ereignisse der Nakba kein versehentlicher „Unfall“ bei der israelischen Staatsgründung, sondern ein wohlgeplantes, gründlich vorbereitetes Resultat der politisch nationalen Ideologie des Zionismus sind. Außerdem wird in kurz die Entstehungsgeschichte des Zionismus behandelt sowie die Haltung des europäischen Judentums zu dieser politischen, nationalen Ideologie. Ein äußerst lesenswertes Spotlight für all diejenigen, die die Geschehnisse im historischen Palästina wirklich verstehen wollen!

„Es ist ganz leicht, die Wahrheit mithilfe eines einfachen linguistischen Tricks zu verfälschen: Man muss seine Geschichte nur mit einem “Zweitens” beginnen. Genau das hat [Jitzhak] Rabin getan. Er hat ganz einfach
unterlassen, von dem zu sprechen, was als Erstes passiert ist. Wenn man seine Geschichte mit dem „Zweitens” beginnt, wird die Welt auf den Kopf gestellt. Wenn man die Geschichte mit dem „Zweitens“ beginnt, sind die Pfeile der Indianer die ursprünglichen Verbrecher und die Gewehre des weißen Mannes die ausschließlichen Opfer. Es genügt, mit “Zweitens” zu beginnen, damit der Zorn der Schwarzen gegen die Weißen barbarisch wird und die verbrannten Vietnamesen die Menschlichkeit des Napalms verletzt haben. Es genügt, mit dem „Zweitens“ zu beginnen, und meine Großmutter Umm ‘Ata ist Verbrecherin und Ariel Sharon ihr Opfer.“ — Mourid Barghouti (aus dem Roman „I saw Ramallah“)

Palästinensisches Flüchtlingslager nahe Damaskus, Syrien, 1948. Quelle: UNRWA

Einleitung

Die Nakba (arabisch „die Katastrophe“) ist ein historisches Ereignis, welches das palästinensische Volk bis heute zutiefst prägt. Sie bezeichnet die ethnische Säuberungskampagne Palästinas, welche im Jahr 1947/48 begann und somit der Staatsgründung Israels unmittelbar vorausging. Historisch belegt ist hierbei die Vertreibung von über 800.000 Palästinensern aus dem Gebiet des heutigen Israels, das entspricht etwa 80% der damaligen dortigen palästinensischen Bevölkerung. Dabei wurden 11 Städte und über 531 Dörfer zerstört und insgesamt 78% des historischen Palästinas erobert und als Staat Israel ausgerufen. Dabei wurde nicht nur das Land eingenommen: Auch Bibliotheken, Konzertsäle, Kinos, Felder, und gleichermaßen die Häuser der Bewohner mit aller persönlichen Habe darin wurden mit Gewalt eingenommen. Innerhalb
weniger Monate wurde so aus dem Volk der Palästinenser ein Heer aus mittellosen Flüchtlingen. Zahllose palästinensische Flüchtlingslager entstanden im noch nicht besetzten Gaza und Westjordanland sowie in den Nachbarländern Syrien, Libanon und Jordanien, wo sie bis heute bestehen und zu einem dauerhaften Provisorium geworden sind. Heute sind zwei von drei Einwohnern Gazas Flüchtlinge und deren Nachfahren, im Westjordanland einer von vier. Ebenso haben viele Palästinenser mit israelischem Pass die gleiche Familiengeschichte. In diesem Artikel wird
gezeigt, dass die Ereignisse der Nakba kein versehentlicher „Unfall“ bei der israelischen Staatsgründung, sondern ein wohlgeplantes, gründlich vorbereitetes Resultat der politisch nationalen Ideologie des Zionismus sind.

Palästinensische Geflüchtete in Flüchtlingslagern eines UN-Hilfswerks, 1948. Quelle: UNRWA

Zionismus: Das Streben nach einem ausschließlich jüdischen Staat

Der Zionismus ist eine unter dem Eindruck des westlichen Antisemitismus entstandene politische nationalistische Ideologie ganz im Geiste des europaweit verbreiteten völkischen Nationaldenkens. Er sieht einen Menschen jüdischen Glaubens nicht als Deutschen, Franzosen, Iraker
oder Polen, sondern in erster Linie als einen Juden an, der keine Heimat in dem Land hat, in welchem er lebt, und daher eine eigene nationale Heimstätte braucht. Diese geplante, zukünftige Heimat verorten die Zionisten nach einigen Diskussionen, in denen auch angedacht wurde,
Uganda und Argentinien für eine Heimstätte in Betracht zu beziehen, schließlich in Palästina. Im Jahr 1897 findet der erste Zionistenkongress in Basel statt. Auf ihm wird die „Zionistische Weltorganisation“ gegründet und die Forderung verlautbart, eine Heimat für das jüdische Volk in Palästina zu errichten. Wie eine solche Heimat ermöglicht werden und aussehen soll, darin sind sich viele führende Zionisten wie beispielsweise Weißmann und Hiss weitgehend einig: Das Schicksal der Palästinenser soll sich ohne Zweifel außerhalb der Grenzen dieses Staates abspielen. Auch Theodor Herzl, geistiger Mitbegründer des Zionismus, lässt sich auf über 20 Seiten
seines Tagesbuches darüber aus, dass die Zukunft des palästinensischen Volkes außerhalb der Landesgrenzen eines jüdischen Staates liegen muss. Dies mache es notwendig, so schreibt er unter anderem 1897, die Eigentümer vollständig und entschädigungslos zu enteignen, aber diese Enteignung muss sorgfältig und stillschweigend erfolgen.[i]

New York Times, 20. Juni 1899

Schon im darauffolgenden Jahr verabschiedet der zweite zionistische Kongress [ii] offiziell den Beschluss, Palästina zu kolonialisieren [iii] und gründet dafür den „Jewish Colonial Trust“ sowie die „Colonial Bank“. Juden aus Europa und den Vereinigten Staaten werden von ihnen gezielt in Kolonien in Palästina angesiedelt und zum Teil auch an Waffen ausgebildet. 1878 machte der Anteil an jüdischen Menschen (zu dieser Zeit sind diese fast alle Palästinenser) in Palästina etwa 3% der Gesamtbevölkerung aus [iv], 1918 sind es schon 8%, 1931 dann 17% [v]. Frühzeitig werden aber auch Stimmen laut, die dem Kolonialisierungsprojekt und Handeln der Zionisten äußerst kritisch gegenüber stehen. So schreibt beispielsweise Ahad Ha’am, selbst ein Zionist, nach einer Reise in Palästina 1891 einen Artikel mit dem Titel „Truth from Eretz Yisrael“:

Und was machen unsere Brüder dort? Sie behandeln die Araber feindselig und grausam, treten sie zu Unrecht, schlagen sie schändlich ohne ausreichenden Grund und prahlen sogar mit ihren Taten […] Wenn wir so weitermachen, werden wir das jüdische Problem nur dorthin verpflanzen, wo es jetzt noch nicht existiert.“ [vi]

Das Jahr 1917 wird für die Zionisten ein bedeutsames: Jahrelang haben sie Delegationen zu zahlreichen Treffen mit osmanischen Diplomaten sowie Vertretern der imperialistischen Länder entsandt, in dem Versuch, palästinensisches Land für die Verwirklichung ihres Nationalprojekts
auszuhandeln. Am 02.11.1917 haben sie endlich Erfolg, als ihnen der britische Außenminister Lord Balfour seine Unterstützung für eine „jüdische nationale Heimat in Palästina“ verspricht (Balfour-Erklärung) [vii], einen Monat später besetzen britische Truppen Jerusalem. Dass die angestrebte „nationale Heimat“ in Palästina eine ausschließlich jüdische sein soll, wird immer wieder offensiv betont. Zionisten wie Chaim Weizmann (Präsident der Zionistischen Weltorganisation und später erster israelischer Staatspräsident) lehnen die Vorstellung eines gemeinsamen demokratischen Staates sowohl für die aus Europa und den USA eingewanderten Juden als auch die indigenen Araber grundlegend ab. Dies schreibt er auch an Balfour. In vielen Briefen Weizmanns lässt sich seine grundlegende Abneigung gegen Araber erkennen:

Der Araber ist primitiv […] Es gibt einen grundlegenden Unterschied in der Qualität zwischen dem Juden und dem Indigenen […] Der Araber ist eine zersetzte Rasse” [viii].

Die Mitglieder der King-Crane-Kommission halten in ihrem Bericht 1919 fest: „[Nach vielen Begegnungen mit jüdischen Vertretern] erwarteten die Zionisten eine praktisch vollständige Enteignung der heutigen nichtjüdischen Bewohner Palästinas.“ Auch Winston Churchill (damals Kriegsminister) hielt in seinem Tagebuch am 25.10.1919 fest: „Es gibt die Juden, die nach Palästina zu bringen wir versprochen haben und die es für selbstverständlich halten, dass die örtliche [palästinensische] Bevölkerung entfernt wird, um ihren Wünschen zu entsprechen.“

Palästinenser auf der Flucht, 1948.

Sprechen die Zionisten für die Mehrheit der Juden?

Es ist jedoch wichtig festzuhalten — und dieser Punkt wird in heutigen Nahost-Debatten häufig und bewusst unterschlagen –, dass die Zionisten nur eine kleine Strömung, nicht aber die Mehrheit innerhalb des europäischen und amerikanischen Judentums darstellten. Die zionistische Bewegung trifft auf heftigen Widerstand innerhalb der jüdischen Gemeinden weltweit. So fand der erste Zionistenkongress nur deshalb in Basel statt, weil die jüdische Gemeinde Münchens vehement gegen seine Ausrichtung in München protestierte. Die Balfour-Deklaration von 1917 ruft nicht nur unter Palästinensern Unsicherheit und Unmut hervor, sondern auch Ablehnung in der britisch-jüdischen Gemeinde. Während der größten Wahl der jüdischen Gemeinden Deutschlands im Jahr 1924 — der einzigen, zu welcher Zionisten antraten — gibt der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV) folgende Wahlempfehlung:

„Für deutsches Judentum und gegen den Zionismus. Keine Stimme für eine Liste, auf der ein Zionist steht […] Für jede Liste stimmen, orthodoxe oder liberale, wenn sie keinen Zionisten enthält und keine Listenverbindung mit einer Liste zulässt, die Zionisten enthält.“ [ix]

Die Devise der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Europas vor dem zweiten Weltkrieg lautet eindeutig, nicht nach Palästina zu emigrieren. Vor dem UN-Sonderkomitee über Palästina lässt Oberrabbiner Yosef Tzvi noch am 16.07.1947 verlautbaren:

„Wir möchten außerdem unsere entschiedene Ablehnung eines jüdischen Staates in irgendeinem Teil Palästinas zum Ausdruck bringen.“ [x]

Palästinenser auf der Flucht, 1948.

Der UN-Teilungsplan

Währenddessen versuchen die Zionisten, ihren Forderungen nach einem rein jüdischen Staat in Palästina auch mit Gewalt Nachdruck zu verleihen. So veranlassen sie unter den von ihnen angesiedelten jüdischen Immigranten die Bildung und Bewaffnung von Milizen (u.a. Haganah
und Irgun), welche anfangs mit britischer Unterstützung an Waffen ausgebildet werden, diese später aber nicht nur gegen die palästinensische Zivilbevölkerung, sondern auch gegen die britischen Besatzungstruppen in Palästina richten. Schließlich kommt es 1946 zum ersten großen
Bombenanschlag auf palästinensischem Boden: Zionistische Milizen sprengen das King David Hotel in Jerusalem, in dem sich britische Soldaten aufhalten. In Anbetracht der Gewalt zionistischer Milizen, aber auch in Anbetracht des durch deutsche Faschisten und ihren Kollaborateuren
begangenen Holocaust — der systematischen, industriellen Vernichtung von über 6 Mio europäischen Juden — befasst sich die UN zunehmend mit der Situation in Palästina und der Frage einer möglichen Gründung eines jüdischen Staates.

Ein zionistischer Milizionär/Soldat überwacht mit seiner Waffe Palästinenser, die von seinen Einheiten zum Verlassen ihres Zuhauses gezwungen werden — für immer. 1948.

So kommt es im Jahr 1947 zum UN-Teilungsplan für Palästina. Obwohl im Jahr 1947 der jüdische Anteil an der Bevölkerung Palästinas bei nur ca. 33% liegt und diese weniger als 6% des Bodens besitzen, soll ihnen über die Hälfte des Landes zugesprochen werden. Auch ganze Städte und Dörfer, die kaum oder gar keine jüdischen Einwohner haben, werden dem zukünftigen jüdischen Staat zugesprochen. Der indigenen palästinensisch-arabischen Bevölkerung, die die absolute Mehrheit stellt, sollen nur 43% des Landes zufallen. Jerusalem hingegen soll internationales Gebiet werden und weder dem jüdischen noch dem palästinensischen Staat gehören. Einen Transfer der Bevölkerung sieht der UN-Teilungsplan nicht vor: Der jüdische Staat würde etwa zur Hälfte aus palästinensischen Bürgern bestehen. Der von der UN vorgelegte Plan löst bei den Palästinensern Entrüstung aus: Die Weltgemeinschaft bestimmt über die Köpfe der Palästinenser hinweg über ein Land, das ihr nicht gehört — ganz in der Tradition des westlichen Kolonialismus. Der Großteil Palästinas soll einer immigrierten Minderheit gegeben werden, während die indigene Bevölkerung völlig übergangen wird. Doch auch die zionistische Seite ist
nicht wirklich zufrieden, strebt sie doch einen viel größeren und vor allem möglichst rein jüdischen Staat an. So äußert sich Ben-Gurion am 3. Dezember 1947 in einer Rede vor führenden Mitgliedern der Mapai (Israelische Arbeiterpartei) in Bezug auf die UN-Teilungsresolution:

„In den Gebieten, die dem jüdischen Staat zugewiesen sind, gibt es 40 % Nichtjuden. Diese Zusammensetzung ist keine solide Basis für einen jüdischen Staat. Und dieser neuen Realität müssen wir uns in ihrer ganzen Härte und Klarheit stellen. Ein derartiges demografisches Verhältnis stellt unsere Fähigkeit in Frage, jüdische Souveränität zu bewahren. Nur ein Staat mit mindestens 80 % Juden ist ein lebensfähiger und stabiler Staat.“ [xi]

Palästinensische Flüchtlinge

Zwei verschiedene Narrative?

Über die Ereignisse, die dem UN-Teilungsplan folgten, heißt es im israelischen Narrativ, dass arabische Armeen den neugeborenen israelischen Staat angegriffen hätten. Eben diese angreifenden arabischen Einheiten seien es gewesen, welche die Palästinenser aufforderten, ihr Land zu verlassen*, während Israel den Palästinensern angeboten habe, all denjenigen, die mit den Juden zusammenleben wollen, zu bleiben und glücklich in einem demokratischen Israel zu leben. Diese Erzählweise widerspricht nicht nur der schon geschilderten Tatsache, dass die zionistische Bewegung von Anfang sowohl Enteignung als auch Transfer der palästinensischen Bevölkerung zur Gründung eines jüdischen Staates fest einkalkulierte und für notwendig erachtete. Auch ein Blick in die Archive des israelischen Militärs straft dieses Narrativ Lügen.

Seit Mitte der 1980er Jahre ist dort ein Großteil der israelischen Dokumente über die Ereignisse der Staatsgründung Israels für Historiker zugänglich. Das umfangreiche Archivmaterial bestätigt, was Palästinenser schon immer beteuerten: Sie wurden systematisch und mit Gewalt vertrieben. Das ist nicht einfach eine subjektive, palästinensische Sichtweise, sondern das einzige mit Dokumenten belegbare Narrativ. Diese Dokumente beinhalten Pläne zur Vertreibung der einheimischen Bevölkerung, Angriffsbefehle und Anweisungen zur Sprengung ganzer Dörfer.

*Es existiert die Behauptung, dass die arabischen Staaten die Palästinenser per Radio-Durchsagen aufgefordert hätten, Palästina zu verlassen. Dafür gibt es jedoch bis heute keinen historischen Beweis. Siehe auch: Erskine
Childers: The other Exodus

Zerstörung eines Volkes: Ein archiviertes Ablaufprotokoll

Israelische Historiker zeigen anhand von eben jenem Archivmaterial, dass allein im Zeitraum vom 29.11.1947 bis März 1948 — also schon Monate vor der offiziellen Staatsgründung Israels am 14.05.1948 und dem darauf folgenden arabisch-israelischen Krieg — durch zionistische Milizen 30 Dörfer zerstört und etwa 100.000 Palästinenser zur Flucht gezwungen wurden [xii].

Palästinenser im Flüchtlingslager, 1948, Quelle: UNRWA

Seit Mitte der 1980er Jahre ist dort ein Großteil der israelischen Dokumente über die Ereignisse der Staatsgründung Israels für Historiker zugänglich. Das umfangreiche Archivmaterial bestätigt, was Palästinenser schon immer beteuerten: Sie wurden systematisch und mit Gewalt vertrieben. Das ist nicht einfach eine subjektive, palästinensische Sichtweise, sondern das einzige mit Dokumenten belegbare Narrativ. Diese Dokumente beinhalten Pläne zur Vertreibung der einheimischen Bevölkerung, Angriffsbefehle und Anweisungen zur Sprengung ganzer Dörfer.

Unter diesen 30 Dörfern war auch Balad Al-Shaykh. Hier lautete der offizielle Befehl, „das Dorf zu umstellen, möglichst viele Männer zu töten, Hab und Gut zu verwüsten.”[xiii] Yossef Weitz, Direktor des Jewish National Fund, schlug offen vor, was er bereits Anfang der 1940er
Jahre im Stillen in sein Tagebuch geschrieben hatte:

„Ist jetzt nicht der Zeitpunkt gekommen, sie loszuwerden? Warum sollen wir diese Stachel weiter in unserer Mitte dulden, wenn sie eine Gefahr für uns darstellen?“ [xiv]

Über 60 palästinensische Dorfbewohner kamen ums Leben. Anschließend wurde auf einer Militärberatung zionistischer Milizen entschieden, dass „eine Trennung zwischen Männern und Frauen eine unnötige Komplikation für zukünftige Operationen darstellt.“ [xv] Man kann daher von diesem Zeitraum als einer „experimentellen Phase“ sprechen, in welcher die Strategien sowie Grenzen des Machbaren durch die Milizen wie Haganah und Irgun ausgelotet wurden. Dies gipfelte am 10.03.1948 im „Plan Dalet“, welcher auf mehreren Seiten ausführlich darlegt, wie die Vertreibung der Palästinenser in den einzelnen Landesteilen durch die zionistischen Militärkräfte zu bewerkstelligen sei:

„Diese Operationen lassen sich folgendermaßen durchführen: entweder durch Zerstörung von Dörfern (indem man sie in Brand setzt, sprengt und die Trümmer vermint) und insbesondere von Wohngebieten, die auf Dauer schwer zu kontrollieren sind, oder durch Durchsuchungs- und Kontrolloperationen nach folgenden Richtlinien: Umstellen und Durchkämmen der Dörfer. Im Fall von Widerstand sind die bewaffneten Kräfte auszuschalten und die Einwohner über die Landesgrenzen hinweg zu vertreiben.” [xvi]

David Ben-Gurion hat in seinem Tagebuch treffend zusammengefasst:

„Palästina zu säubern blieb das vorrangige Ziel von Plan Dalet“.

Im Folgenden sollen die Absicht und Systematik der Vertreibung der Palästinenser beispielhaft an den konkreten Militäroperationen in einigen der größten Städten Palästinas: Haifa, Akka, Lod und Ramla, aufgezeigt werden.

Palestinensische Flüchtlinge versuchen aus Haifa zu fliehen, 1948. John Philips/Time-Life Pictures/Getty Images

Die Küstenstadt Haifa wurde am 22.04.1948 von zionistischen Milizen angegriffen. In den Archiven der Haganah findet sich dabei folgende Anweisung des Operationschefs Mordechai Meklef (er wurde später Stabschef der israelischen Armee):

„Tötet jeden Araber, den ihr trefft, setzt alles Brennbare in Brand und sprengt die Türen auf“. [xvii]

Opfer des Massakers von Deir Yassin im April 1948.

Die vom Angriff vollkommen überraschte palästinensische Bevölkerung floh in Panik gen Hafen — erst zwei Wochen zuvor hatten zionistische Milizen das Dorf Deir Yassin angegriffen und dabei mehr als 150 palästinensische Bewohner getötet; die Angst vor weiteren
derartigen Massakern saß nun tief in der Bevölkerung aus allen Teilen des Landes, auch in Haifa. Arabische Führer versuchten daher nun, mit den Zionisten eine geordnete Evakuierung Haifas** auszuhandeln. Letztlich erfolglos. Während der Verhandlungen und später des Fluchtchaos setzte sich der jüdische Bürgermeister der Stadt, Shabtai Levi, dafür ein, dass die Menschen in Haifa bleiben könnten und versprach, dass ihnen nichts geschehen werde. Aber nicht Levi, sondern Mordechai Maklef hatte das Sagen. So wurde die wehrlose Menge Geflüchteter, die sich am Hafen sammelte, um mit Booten dem Angriff zu entkommen, mit Raketen zionistischer Brigaden beschossen.

„Männer trampelten über ihre Freunde, Frauen über ihre eigenen Kinder. Die Schiffe im Hafen waren schnell voll von lebendiger Fracht. Sie waren furchtbar überfüllt. Viele kenterten und sanken mit allen Passagieren.“ [xviii]

Zionistische Milizionäre/Soldaten plündern Haifa, nachdem sie die einheimische palästinensische Bevölkerung schlagartig vertrieben hatten. Diese plündernden Soldaten kommen dabei an einem getöteten 13-jährigen palästinensischen Jungen in den Straßen Haifas vorbei. Haifa, 1948

Als die britischen Besatzungstruppen von dem Angriff erfuhren, sandten sie sofort Schiffe, um die ins Meer getriebenen, ertrinkenden Palästinenser zu retten und in den Libanon zu bringen. Als Golda Meir einige Tage später Haifa besuchte, fiel es ihr schwer,

“ein Gefühl des Entsetzens zu unterdrücken, als sie in Häuser eintrat, in denen gekochtes Essen noch auf den Tischen stand, Kinder Spielzeug und Bücher auf dem Boden liegen gelassen hatten und das Leben im Handumdrehen eingefroren zu sein schien“ [xix].

Palästinenser werden gezwungen, Haifa zu verlassen, 1948. Auf dem rechten Bild ist ein zionistischer Milizionär mit Waffe zu sehen.

Die Stadt Akko hingegen stand unter wochenlanger Belagerung zionistischer Truppen. „Typhusbakterien wurden von der Hagana in die Wasserversorgung der Stadt injiziert”, berichtete das Internationale Rote Kreuz seiner Zentrale [xx]. Auch Oberst Bonnet von der britischen Armee
(Chef der britischen medizinischen Dienste), Dr. MacLean (medizinischer Dienst) und Maximilien de Meuron (Delegierter des Roten Kreuzes in Palästina) berichteten übereinstimmend: „Die Infektion ist zweifellos durch Wasser übertragen worden.“ [xxi]. Akko muss, durch Typhus geschwächt, seinen Widerstand aufgeben. Ein französischer UN-Beobachter [xxii] berichtet anschließend von weitverbreiteten und systematischen Plünderungen.

All dies geschah vor dem israelisch-arabischen „Krieg“. Vom 30.03. bis zum 15.05.1948 besetzten zionistische Truppen 200 weitere Dörfer und vertrieben deren Einwohner. Somit waren schon knapp die Hälfte aller palästinensischen Dörfer und die meisten Städte attackiert und anschließend entweder zerstört oder besetzt und insgesamt über 400.000 Palästinenser vertrieben worden — noch bevor die Zionisten den Staat Israel ausriefen und noch bevor irgendeine Seite offiziell in einen Krieg zog.

Durch Zionisten aus ihrem Zuhause ausgesperrte Palästinenser während der Nakba, 1948

Auch nach dem 14.05.1948, der offiziellen Ausrufung des Staates Israels, wurde die Vertreibung der Palästinenser fortgesetzt: Rabin beschreibt in seinem Tagebuch, wie zwei Monate nach der Staatsgründung der israelische Ministerpräsident auf die Frage hin, was mit den etwa 70.000
Einwohnern von Lod und Ramla geschehen soll, reagierte: „Ben-Gurion winkte mit der Hand in einer Geste, die lautete: „Jagt sie fort!“ [xxiii]. Lod wurde im Juli 1948 aus der Luft bombardiert und 426 palästinensische Stadtbewohner, die Zuflucht in der Dahamisch-Moschee suchten, mas-
sakriert von israelischen Truppen, die anschließend „in die Häuser stürmten und die Familien herauszerrten und kein einziges Haus verschonten. Die Häuser wurden anschließend geplündert und die Flüchtlinge beraubt, bevor man ihnen befahl, zu Fuß in einem der heißesten Monate des Jahres zu einem der heißesten Orte Palästinas Richtung Westjordanland zu gehen“, wie der israelische Historiker Ilan Pappe [xxiv] zusammenfassend unter Berücksichtigung von Archivmaterial und Augenzeugenberichten beschreibt.

Palästinenser werden von Zionisten mit vorgehaltener Waffe aus Lydd (Lod) vertrieben.

Unter dem Eindruck der brutalen Ereignisse in Lod unterzeichneten Vertreter der Nachbarstadt Ramla einen Kapitulationsvertrag mit den israelischen Kräften. Ramla versicherte, keinen militärischen Widerstand gegen eine israelische Besatzung zu leisten, im Gegenzug dafür verpflichtete sich Israel, die Einwohner nicht zu vertreiben. Doch kurze Zeit nach Unterzeichnung dieser Abmachung stürmten am 14. Juli israelische Truppen unter dem Kommando Yitzhak Rabins, dem späteren Ministerpräsidenten Israels und Friedensnobelpreisträger, die Stadt, plünderten sie und vertrieben die Einwohner. Ihr Hab und Gut durften sie nicht mitnehmen. Auch sie wurden gezwungen, in der brütenden Sommerhitze zu Fuß ins Westjordanland zu gehen. Abschließend stellt ein Bericht des Militärgeheimdienstes der Haganah (SHAI) [xxv] fest, dass 73% aller 1947/48 geflüchteter und vertriebener Palästinenser aufgrund direkter israelischer Angriffe flohen, 22% aus Angst nach Angriffen auf Nachbardörfer und dass gerade einmal 5% der palästinensischen Flüchtlinge auf arabische Fluchtaufrufe reagierten.

Friedliche Koexistenz? Die Nakba geht weiter

Die Vertreibung wurde nach der israelischen Staatsgründung weiter fortgesetzt. Zu den dafür eingesetzten Mitteln gehörten die Fortführung von Hauszerstörungen, Enteignung des Privateigentums aller vertriebenen Palästinenser per Gesetz (auch derjenigen, welche später israelische
Bürger wurden) sowie des gemeinschaftlichen palästinensischen Eigentums (Vereine, Stiftungen usw.). Die Palästinenser, die nicht über die Grenzen des heutigen Israel vertrieben wurden (etwa 20% der damaligen indigenen Bevölkerung), wurden nach 1948 für 18 Jahre unter Militärrecht
gestellt. Die arabischen Bürger Israels befanden sich somit unter einer Ausgangssperre, benötigten Sondergenehmigungen, um Familienangehörige in Nachbarstädten und -dörfern besuchen zu
dürfen, und hatten kein Recht auf Verfahren vor einem Zivilgericht, wie sie jüdischen Bürgern zustanden. Für die Vertriebenen außerhalb der Landesgrenzen wurde ein Rückkehrverbot erlassen, das israelischen Soldaten erlaubt, auf Palästinenser, die versuchen, in ihre Heimat zurückzukehren, zu schießen. Dieses Gesetz ist bis heute in Kraft. Die einst in gründlich vorbereiteten Militäraktionen Vertriebenen sollen nie mehr zurückkehren können. Kaum etwas unterstreicht die Absicht der dauerhaften Vertreibung des palästinensischen Volkes aus ihrer Heimat besser, als dieses Gesetz. [xxv]

Stacheldraht prägt den Alltag der in Israel verblieben Palästinenser*innen für 18 Jahre

Schlussfolgerung

Die Nakba, die Vertreibung eines ganzen Volkes, war kein Versehen der israelischen Staatsgründung und ebenso wenig das Ergebnis des israelisch-arabischen Krieges. Sie war eine frühzeitig geforderte und später systematisch und gewaltsam umgesetzte ethnische Säuberungskampagne mit dem Ziel der Gründung eines ethnisch reinen Nationalstaates. Wie der israelische Historiker Benny Morris zusammenfassend beschreibt:

„Der Transfer war unvermeidlich und in den Zionismus eingebettet — weil er ein Land, das ‘arabisch’ war, in einen ‘jüdischen’ Staat zu verwandeln suchte und ein jüdischer Staat ohne eine größere Vertreibung der arabischen Bevölkerung nicht hätte entstehen können; und weil dieses Ziel automatisch Widerstand unter den Arabern hervorrief.“ [xxvii]

Quellen

[i] Raphael Patai (ed.), The Complete Diaries of Theodor Herzl, Th160
[ii] http://www.jewishencyclopedia.com/articles/2612-basel-program (abgerufen am 05.05.2020)
[iii] The New York Times vom 20.06.1899, „Conference of Zionists; Will Colonize Palestine“ https://www.nytimes.com/1899/06/20/archives/conference-of-zionists-elect-delegates-at-their-meeting-in.html (abgerufen am 05.05.2020)
[iv] Yonatan Mendel, The Creation of Israeli Arabic: Security and Politics in Arabic Studies in Israel, Pa014.
[v] Justin McCarthy, The Population of Palestine, Mc98
[vi] Aha Dowty, Ahad Ha’am, and Asher Ginzberg. “Much Ado about Little: Ahad Ha’am’s “Truth from Eretz Yisrael”, Zionism, and the Arabs.” Israel Studies 5, no. 2 (2000): 154–81.
[vii] https://mfa.gov.il/mfa/foreignpolicy/peace/guide/pages/the%20balfour%20declaration.aspx
[viii] Chaim Weizmann, The letters and papers of Chaim Weizmann, Israel Universities Press
[ix] Max P. Birnbaum, Staat und Synagoge 1919–1938 — J.981
[x] https://www.truetorahjews.org/dushinsky1 (abgerufen am 5.05.2020)
[xi] Die gesamte Rede wurde veröffentlicht in: Ben-Gurion, Tagebuch, In the Battle, S. 255–272, 1949
[xii] Benny Morris, The Birth of the Palestinian Refugee Problem Revisited, 2004
[xiii] Uri Milstein, The History of the Independence War, Bd 78, 1989
[xiv] Ben-Gurions Diary, 31.12.1947
[xv] Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas, S. 106, 2007
[xvi] Die englische Übersetzung des Plan Dalet findet sich bei Walid Khalidi, „Plan Dalet: Master Plan for the Conquest of Palestine“, Journal of Palestine Studies, 18/69 (Herbst 1988), S. 4–20.
[xvii] Hagana Archives, 69/72, 22.4.1948
[xviii] Walid Khalidi, Selected Documents of the 1948 War
[xix] Central Zionist Archives, 45/2, Protokoll
[xx] Red Cross Archives, Geneva, Files G59/1/GC, G3/82
[xxi] Salman Abu Sitta, Israel’s Biological and Chemical Weapons: Fast and Present, Between the Lines, 2003
[xxii] Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas, S. 164, 2007
[xxiii] Dan Kurzman, Soldier of Peace, S. 140 f, 1998
[xxiv] Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas, Zw2007
[xxv] Intelligence report, “Migration of Eretz Yisrael Arabs between December 1, 1947, and June 1, 1948”. Scan des hebräischen Texts und der englischen Übersetzung: (https://web.archive.org/web/20200503130610/https://www.akevot.org.il/en/article/intelligence-brief-from-1948-hidden-for-decades-indicates-jewish-fighters-actions-were-the-major-cause-of-arab-displacement-not-calls-from-arab-leadership/?full)
[xxvi] Der Gesetzestext: https://web.archive.org/web/20111006160636/http://www.israellawresource-center.org/emergencyregs/fulltext/preventioninfiltrationlaw.htm
Ausführliche Informationen: Alina Korn, From refugees to infiltrators: Constructing political crime in Israel in the 1950s, International Journal of The Sociology of Law 31, S. 1–22., 2003

Der Artikel selbst ist ein verschriftlichter Vortrag, der von einem unserer occupiednews-Mitglieder u.a. auf der Offenen Akademie gehalten und von dieser auch publiziert wurde: https://www.offene-akademie.org/https://www.offene-akademie.org/wp-content/uploads/2022/01/al-nakba-die-vertreibung-der-palaestinenser-eine-reise-durch-israelische-archive-1.pdf

Literaturempfehlungen

1. Ilan Pappe, „Die ethnische Säuberung Palästinas”, 2007
2. Nur Masalha, “Expulsion of the Palestinians: The Concept of Transfer in Zionist Political Thought“, 1992
3. Shlomo Sand, „Die Erfindung des jüdischen Volkes: Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand“, 2011
4. Walid Khalidi, „From Haven to Conquest: Readings In Zionism and the Palestine Problem Until 1948“, 1987
5. Walid Khalidi, „All That Remains: The Palestinian Villages Occupied and Depopulated by Israel in 1948“, 2006
6. Ghassan Kanafani, „Rückkehr nach Haifa”, Roman, 2018
7. Ben White, „Israeli Apartheid: A Beginner’s Guide“, 2. Aufl. 2014
8. Atef Abu Saif, „Frühstück mit der Drohne”, Tagebuch aus dem Gazakrieg, 2014 (englisch), 2017 (deutsch)
9. zochrot.org (Hebräisch „Erinnerungen“)
10. palestineremembered.com

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