đ Deutschland hat gerade einen drastischen Schritt zur Kriminalisierung von PalĂ€stina-Aktivismus unternommen đ
Ein neuer Bericht von Minister:innen soll die rechtliche Grundlage fĂŒr das Verbot palĂ€stinensischer Gruppen & sogar fĂŒr das Verbot von Karten des historischen PalĂ€stina schaffen.
Dieser Bericht von Hebh Jamal erschien am 21.12.2022 im Nachrichtenmagazin +972 unter dem Titel: âGermany just took a drastic step toward criminalizing Palestine activismâ. Hier veröffentlichen wir die Deutsche Ăbersetzung
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Ein neuer Bericht der deutschen Innenministerkonferenz (IMK), der sich auf âPrĂ€vention und Intervention gegen israelbezogenen Antisemitismusâ konzentriert, drĂ€ngt auf ein weiteres Vorgehen gegen pro-palĂ€stinensische SolidaritĂ€t und diskutiert sogar die Kriminalisierung dieser SolidaritĂ€tsbekundungen und des pro-palĂ€stinensischen Aktivismus.
Der Bericht, der von einer der IMK-Arbeitsgruppen verfasst und von der Konferenz Anfang des Monats angenommen wurde, vermengt konsequent Antizionismus mit Antisemitismus, indem er die umstrittene IHRA-Definition fĂŒr Antisemitismus verwendet. Er enthĂ€lt konkrete VorschlĂ€ge, wie etwa die Aufforderung an Schulen, den SchĂŒler:innen im Unterricht ein positiveres Bild von Israel zu vermitteln, und stuft den jĂŒngsten Bericht von Amnesty International ĂŒber israelische Apartheid als âantisemitischâ ein. Der IMK-Bericht schlĂ€gt sogar vor, Karten zu verbieten, die âdas Existenzrecht Israels in Frage stellenâ; ob dies auch Karten des historischen PalĂ€stina einschlieĂt, bleibt unklar.
Die BeschlĂŒsse der IMK sind nicht unmittelbar rechtlich bindend, so dass der Bericht derzeit nicht einklagbar ist. Die Konferenz, die sich aus den Innenminister:innen und -senator:innen der 16 deutschen BundeslĂ€nder zusammensetzt, spielt jedoch eine wichtige Rolle bei der Koordinierung der AktivitĂ€ten der Landesregierungen, und ihre BeschlĂŒsse sollen auf Landesebene umgesetzt werden. Obwohl die IMK fĂŒr die Umsetzung nicht zustĂ€ndig ist, sind ihre BeschlĂŒsse politisch bindend, da sie nach den Regeln der Konferenz einstimmig verabschiedet werden mĂŒssen.
In einem eigenen Informationsdokument der IMK heiĂt es, dass die Nichteinhaltung ihrer BeschlĂŒsse âdie Grundlagen einer kollegialen und vertrauensvollen Zusammenarbeit [zwischen den BundeslĂ€ndern] in der Zukunft erschĂŒtternâ wĂŒrde. Die Innenministerien der LĂ€nder verfahren in der Regel nach den Vereinbarungen der IMK und berichten sich gegenseitig ĂŒber den Stand der Vereinbarungen und MaĂnahmen.
In einer ErklĂ€rung an +972 berichtet Amnesty International: âWir sind gegen Antisemitismus, der den Menschenrechten zuwiderlĂ€uft. Wir lehnen Diskriminierung, Rassismus und Hassverbrechen in jeder Form ab, auch gegen JĂŒdinnen und Juden oder Menschen, die als jĂŒdisch wahrgenommen werden. Die gesamte Kritik von Amnesty an der israelischen Regierung stĂŒtzt sich auf internationales Recht und auf Beweise fĂŒr den groĂen Schaden und das Leid, das die israelische Politik den PalĂ€stinenser:innen zufĂŒgt. Amnesty kritisiert die israelische Regierung, nicht das israelische Volk oder das jĂŒdische Volk.â
Der Sprecher des IMK reagierte nicht auf die Bitte der Autorin um einen Kommentar.
Eine wahnhafte Sicht auf die RealitÀt der Besatzung
Der Bericht hebt die Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS-Bewegung) hervor, bezeichnet sie als gefĂ€hrlich und antisemitisch und behauptet, sie bestehe aus âauslĂ€ndischen Extremisten, islamistischen Terrororganisationen und linksextremistischen Gruppenâ â eine Behauptung, die von der israelischen Regierung stark verbreitet wird. Ferner wird die BDS-Bewegung beschuldigt, âarabisch-nationalistischen und islamistischen Antisemitismus und Terror im Nahen Osten zu verharmlosenâ und diese Rhetorik durch die Wissenschaft zu rechtfertigen. âSympathisant:innen der BDS-Kampagne sind auch in der Kunst- und Kulturszene sowie in der Wissenschaft zu findenâ, heiĂt es in dem Bericht weiter.
[Anm. d. Red: BDS setzt sich dafĂŒr ein, die internationale UnterstĂŒtzung fĂŒr die UnterdrĂŒckung der PalĂ€stinenser durch Israel zu beenden und Israel zur Einhaltung des Völkerrechts zu zwingen. Sie orientiert sich an einstigen Boykottkampagne gegen die sĂŒdafrikanische Apartheid.]
Das deutsche Vorgehen gegen die BDS-Bewegung hat sich in den letzten Jahren massiv verschĂ€rft, beschleunigt durch einen Bundestagsbeschluss aus dem Jahr 2019, der die BDS-Bewegung als inhĂ€rent antisemitisch einstuft und Organisationen, die den Boykott unterstĂŒtzen, den Zugang zu öffentlichen Geldern und öffentlichen RĂ€umen verwehrt. Die Resolution hat es UniversitĂ€ten, Landesregierungen und öffentlichen Einrichtungen ermöglicht, PalĂ€stinenser:innen das Recht auf Rede- und Versammlungsfreiheit zu verweigern.
Diese Zensur hat dazu beigetragen, dass in Deutschland eine antipalĂ€stinensische politische Stimmung und Politik entstanden sind, deren BefĂŒrworter:innen glauben, dass sie durch die historische Verantwortung Deutschlands gegenĂŒber Israel gerechtfertigt ist. Das fĂŒhrt dazu, dass jede Kritik an der israelischen UnterdrĂŒckung der PalĂ€stinenser:innen oft sofort als problematisch angesehen wird.
âEs ist wirklich eine gefĂ€hrliche Entwicklung in eine autoritĂ€re Richtungâ, sagte Kerem Schamberger, ein deutscher Kommunikationswissenschaftler und politischer Aktivist, ĂŒber den neuen IMK-Bericht. âDie Annahme dieser politischen, instrumentalisierten Definition von Antisemitismus durch den Staat, seine Institutionen und seine regierenden Politiker:innen ist eine wahnhafte Sicht auf die RealitĂ€t der Besatzung und schirmt jede Kritik daran ab.â
âSie versuchen, jede pro-palĂ€stinensische Handlung zu kriminalisieren und zu bestrafenâ, so Schamberger weiter. âMit der Anti-BDS-Resolution haben sie das ganz allgemein getan, aber das war nur der Anfang. Jetzt versuchen die BundeslĂ€nder, spezifische Instrumente zu schaffen, mit denen sie die internationale SolidaritĂ€t und pro-palĂ€stinensische Aktivist:innen ins Visier nehmen können.â
Die gleichen alten unbegrĂŒndeten Argumente
Um der BDS-Bewegung entgegenzuwirken, empfahl die Arbeitsgruppe, die den jĂŒngsten Bericht verfasst hat, die Entwicklung âangemessener Bildungsmedien und Bildungsformate fĂŒr Schulenâ sowie Schulungen fĂŒr PĂ€dagog:innen, um âein realistisches Bild von Israel zu vermittelnâ.
Anfang dieses Monats berichtete +972 ĂŒber den aggressiven VorstoĂ des deutschen Bildungssystems, um in den Klassenzimmern ein pro-israelisches Bild zu vermitteln. Dies hat nicht nur zu einem Mangel an kritischen GesprĂ€chen unter den SchĂŒler:innen gefĂŒhrt, sondern entmutigt auch jeden pro-palĂ€stinensischen Dialog, was oft zu einem feindlichen Lernumfeld fĂŒr PalĂ€stinenser:innen fĂŒhrt. Dem Bericht zufolge ist das IMK jedoch der Ansicht, dass eine noch stĂ€rkere pro-israelische Agenda in den Schulen sowie âintensivereâ Austauschprogramme mit Israel erforderlich sind.
Der Bericht fordert jedoch nicht nur mehr Möglichkeiten zur BekĂ€mpfung jeder pro-palĂ€stinensischen SolidaritĂ€t. Er spricht sich auch fĂŒr hĂ€rtere Strafen fĂŒr PalĂ€stina-Aktivismus aus, die âso universell wie möglichâ sein sollen. Die Arbeitsgruppe strebt die Entwicklung eines bundesweiten Musterleitfadens an, der von Antisemitismusbeauftragten auf Bundes- und Landesebene genutzt werden kann, um antisemitische Handlungen bundesweit zu ĂŒberwachen und zu verfolgen.
Das IMK schlĂ€gt auĂerdem vor, âeine neue Rechtsgrundlageâ zu schaffen, um AktivitĂ€ten gegen Israel zu kriminalisieren oder âdie Existenz pro-palĂ€stinensischer Gruppen strafrechtlich zu verfolgenâ, einschlieĂlich gesetzlicher Regelungen gegen pro-palĂ€stinensische Vereine und AktivitĂ€ten unter dem Deckmantel des âVerbots antisemitischer Versammlungenâ.
Deutschland hat sich bereits verpflichtet, pro-palĂ€stinensische Versammlungen zu unterbinden. Anfang dieses Jahres hat die Berliner Polizei 170 Personen bei Demonstrationen zum Nakba-Tag festgenommen und in Gewahrsam genommen, von denen einige lediglich eine palĂ€stinensische Flagge oder eine Kuffiyeh getragen hatten. Die Berliner Polizei verbot auch eine Mahnwache fĂŒr die Ermordung der US-amerikanischen-palĂ€stinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh, die von jĂŒdischen Organisatoren geplant worden war â alles im Namen der BekĂ€mpfung des Antisemitismus.
âDies stellt einen weiteren Versuch dar, die freie MeinungsĂ€uĂerung der palĂ€stinensischen Rechte und legitime Forderungen nach Rechenschaftspflicht durch unverbindliche politische Leitlinien zu unterdrĂŒckenâ, sagte Alice Garcia, Leiterin der Abteilung Interessenvertretung und Kommunikation beim European Legal Support Center, gegenĂŒber +972.
âNatĂŒrlich wĂ€re es schwierig, solche MaĂnahmen durch GesetzgebungsvorschlĂ€ge zu genehmigen, da es ihnen an Substanz fehlt und sie die Grundrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht respektierenâ, so Garcia. âDieses Dokument ist daher eines der Mittel, mit denen die BefĂŒrworter eines antipalĂ€stinensischen Diskurses versuchen, eine neue Kategorie von Handlungen durchzusetzen, die sie de facto fĂŒr illegal erklĂ€ren wollen; es muss daher scharf verurteilt und bekĂ€mpft werden.â
ZurĂŒckdrĂ€ngen
Einige Gruppen haben in der Tat den zunehmenden deutschen AntipalĂ€stinismus verurteilt und in Frage gestellt. Ahmed Abed, ein palĂ€stinensisch-deutscher Rechtsanwalt, war kĂŒrzlich an einem Fall beteiligt, der beispielhaft fĂŒr diese BemĂŒhungen ist. Dem PalĂ€stina-Komitee Stuttgart, einer Gruppe, die BDS unterstĂŒtzt, wurde von der Landesbank Baden-WĂŒrttemberg (LBBW) wegen der antizionistischen Politik der Gruppe das Bankkonto gekĂŒndigt. Abed half der Gruppe erfolgreich dabei, die KontokĂŒndigung rĂŒckgĂ€ngig zu machen â am 26. April entschied das Landgericht Stuttgart, dass das Vorgehen der LBBW ungerechtfertigt war.
âDas Gericht erklĂ€rte, dass die BDS-Bewegung keine Bedrohung fĂŒr das jĂŒdische Leben in Deutschland darstelltâ, sagte Ahmed Abed gegenĂŒber +972. Doch das scheint die Verfasser:innen des Berichts wenig beeindruckt zu haben.
âDie Innenminister handeln gegen ihre eigene Verfassung und gegen die Anti-Apartheid-Konvention, der sich Deutschland verpflichtet hatâ, sagte Abed zu dem Bericht. âMenschenrechtsorganisationen fordern Sanktionen wegen der israelischen Apartheid, aber friedliche Aktionsformen wie BDS werden kriminalisiert. PalĂ€stinenser:innen sollen fĂŒr Aussagen wie â From the river to the sea, Palestine will be freeâ, [fĂŒr] die Karte des historischen PalĂ€stinas oder [wegen] BDS strafrechtlich verfolgt werden. Die Innenminister:innen ignorieren einfach die jĂŒngsten Gerichtsentscheidungen, die dies nicht zulassen.â
Auch jĂŒdische Wissenschaftler:innen und KĂŒnstler:innen aus Israel sind mit der Entwicklung der letzten Jahre in Deutschland nicht zufrieden. Im Jahr 2020 forderten Dutzende von jĂŒdischen Wissenschaftler:innen und KĂŒnstler:innen aus Israel und anderen LĂ€ndern die Bundesregierung auf, den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, wegen seiner âweaponization of antisemitismâ gegen Kritiker Israels von seinem Posten zu entlassen. âAls offizieller Vertreter der deutschen Regierung untergrĂ€bt Herr Klein die AusĂŒbung der Grundfreiheiten â dies sollte Ihre Regierung, die sich den demokratischen Prinzipien und der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet fĂŒhlt, zutiefst beunruhigenâ, heiĂt es in dem Brief.
Es ist noch nicht klar, welche Auswirkungen die Resolution der IMK haben wird und wir wissen auch nicht, wie schnell diese Formulierungen in den BundeslĂ€ndern Gesetz werden wird. Eines ist jedoch klar: Es wird immer schwieriger, im angeblich demokratischen Deutschland fĂŒr die Freiheit der PalĂ€stinenser:innen zu kĂ€mpfen.
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