Israel und die Frage der Apartheid — Weekly Spotlight

Occupied News
8 min readJul 12, 2020

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Für alle, die gern mehr wissen wollen

Diese Woche:
1. Ist Israel ein Apartheidsstaat? Ein kurzer Überblick über die Diskussion, 3 palästinensische Stimmen zum Thema in der TAZ, eine der wichtigsten isr. Menschenrechtsorganisationen Yesh Din kommt diese Woche zu dem Schluss: Israel begeht in den besetzten Gebieten das Verbrechen der Apartheid”, UN-Bericht (2017): „Fern jedes vernünftigen Zweifels, belegen die Beweise, dass Israel schuldig ist, ein Apartheidregime gegen das palästinensische Volk errichtet zu haben.“
2. Vertreibung der Palästinenser geht weiter: Der Fall der Ortschaft Susiya & der Fall der Familie Sumarin. Interaktive Karte fasst jahrzehntelange Entwicklung zusammen
3. Annexion: Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages: Politik gegenüber Palästinensern ist völkerrechtswidrig. Außerdem: Einladung zu Online-Podiumsdiskussion zum Thema Annexion am 13.07.2020.
4. Jüdische Gelehrte fordern Rücktritt des Antisemitismusbeauftragten Felix Klein
5. Kampagnen: BDS wird 15 Jahre alt. Warum sollte man die zivilgesellschaftliche Kampagne unterstützen und wie?

Ist Israel ein Apartheidsstaat?

Israelische Pässe sind nicht gleich. In ihnen wird unterschieden, ob man Jude, Palästinenser oder Druse ist. Man hat in Israel zwar gleiche Staatsangehörigkeit, nicht aber gleiche Nationalität. Wer nicht jüdischer Nationalität ist, für den gibt es über 65 Sondergesetze — und diese sind explizit diskriminierend und gelten eben nicht für jüdische Bürger. Die in Israel basierte Anwaltsorganisation Adalah, die sich für die Rechte palästinensischer Israelis einsetzt, hat diese in folgender Datenbank zusammengefasst: https://www.adalah.org/en/content/view/7771
Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Gesetze, die sich erst auf den zweiten Blick bzw. auf indirekte Weise als diskriminierend gegenüber Nichtjuden herausstellen. Der britische Journalist Ben White berichtet darüber ausführlich in seinem Buch “Israeli Apartheid: A Beginner’s Guide”. Seit 2018 — ironischerweise in der gleichen Woche, in der Nelson Mandela seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte — verabschiedete Israel das umstrittene “Nationalstaatsgesetz”. In diesem wird klipp und klar dargestellt: “Israel ist ein jüdischer Staat” und “die Heimstätte des jüdischen Volkes”. Über 20% der israelischen Bevölkerung — nämlich der indigene, aber eben nicht jüdische Teil — werden somit komplett ausgeklammert. Jüdische Kultur und Entwicklung sind zu fördern, jüdische Siedlungen liegen im Interesse des Nationalstaates, es geht um das Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volkes. Vom Rest wird geschwiegen. Arabisch verliert seinen Status als zweite Amtssprache. Was zuvor jahrzehntelang Praxis war, hat nun offiziell Verfassungsrang: Ungleichbehandlung innerhalb Israels aufgrund von Ethnie.
In den von Israel besetzten Gebieten gilt seit 1967 das Militärrecht, welches auf alle dort lebenden Palästinenser angewandt wird. Für illegale Siedler gilt hingegen isr. Zivilrecht. Ein Gebiet, zwei verschiedene Gesetzesrahmen — basierend auf Ethnizität. Sollte es zur Annexion von Teilen des Westjordanlandes kommen, so werden laut Netanyahus Aussagen die mitannektierten Palästinenser weiter unter isr. Militärrecht stehen und keine isr. Pässe bekommen: Ein Staat, zwei verschiedene Rechtssysteme, die einen staatenlos, die anderen nicht — entscheidend: die Ethnizität.
In dem Zusammenhang ebenfalls wichtig: Vor der Besetzung Gazas und des Westjordanlandes 1967 hatten Palästinenser innerhalb Israels noch keine israelischen Pässe und standen ebenfalls unter Militär-, nicht aber unter Zivilrecht, eingepfercht in Ghettos. Dies änderte sich erst (mit den oben genannten Einschränkungen) in den 60er Jahren. Streng genommen hat es somit in der ganzen 72 jährigen Geschichte Israels keinen einzigen Tag gegeben, in denen Palästinenser und jüdische Israelis rechtlich gleich behandelt wurden.

Stimmen aus Palästina: 3 palästinensische Aktivistinnen und Aktivisten Anfang 30 fordern diese Woche in der deutschen Zeitung taz die Anpassung der Palästina-Politik der EU an die Gegebenheiten in den von Israel besetzten Gebieten & entschiedenes Vorgehen gegen die repressive Realität vor Ort, die sie als Apartheid sehen: https://taz.de/!5694561

Diese Woche veröffentliche die isr. Organisation Yesh Din einen ausführlichen Bericht zur Frage der Apartheid: Israel begeht in den besetzten Gebieten das Verbrechen der Apartheid”, so der wichtigste Menschenrechtsanwalt im Land, Michael Sfard, in jenem neuen juristischen Gutachten. Nach 53 Jahren Besiedlung kann man nicht weiter von Besatzung reden: https://t.co/vRbNavL60S?amp=1

Wer nicht den ganzen (empfehlenswerten) Bericht lesen will, der kann die Kurzzusammenfassung von Michael Sfard in Haaretz nachlesen: https://www.haaretz.com/israel-news/.premium-yes-it-s-israeli-apartheid-even-without-annexation-1.8984029?fbclid=IwAR3NX_jb96ZJuqz717HZk0N9oY_6kBsQLU001HEUhv2WOllPJ9vcHtVUcKI

Die UN und die Frage nach der Apartheid: Auch die UN hat sich mit der Frage der Apartheid in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten befasst. Während die UN lange Zeit davor warnte, Israel befände sich auf dem Weg zu einem Apartheidsstaat, kam ein 2017 veröffentlichter Bericht zu dem Schluss, dass Apartheid in Israel schon längst existiert: „Fern jedes vernünftigen Zweifels, belegen die Beweise, dass Israel schuldig ist, ein Apartheidregime gegen das palästinensische Volk errichtet zu haben.“ Der Bericht räumt ein, dass es noch eines ordentlichen internationalen Gerichtsverfahrens bedarf, um diesen Schlussfolgerungen die nötige Autorität zu verleihen und regt daher an, UN-Gerichte sollten diese Aufgabe übernehmen. In all seiner Brisanz ist der Bericht ein historischer Meilenstein, denn es ist das erste Mal, dass eine UN-Organisation die permanenten Verbrechen Israels als „Apartheid“ bezeichnet. Der vollständige UN-Bericht (englisch): http://www.auphr.org/docs/Israeli-Practices-towards-the-Palestinian-People-and-the-Question-of-Apartheid.pdf

Wer des Englischen nicht mächtig ist, kann auf Deutsch eine grobe Zusammenfassung des (und über den) UN-Berichtes hier lesen: https://www.freitag.de/autoren/jakob-reimann-justicenow/israel-ist-ein-apartheidstaat

Vertreibung der Palästinenser geht weiter

Die Vertreibung der indigenen palästinensischen Bevölkerung ist seit jeher fester Bestandteil isr. Politik. Zahlreiche Bücher, Berichte, Artikel & Zeugenberichte sind dazu schon verfasst und veröffentlicht worden. Hier zwei aktuelle Beispiele aus den letzten Wochen:

  1. Der Fall Susiya

Das Militär vertrieb die pal. Bewohner von Khirbet Susiya 1986 aus ihrem Dorf. Daraufhin zogen sie auf ihr Ackerland um. Seither versuchen das isr. Militär und illegale Siedler, sie auch von dort zu vertreiben. Ein Video vom Freitagmorgen, der 12. Juni 2020, gegen 9.00 Uhr morgens, zeigt beispielhaft, wie: Dutzende israelische Siedler dringen in das Dorf Susiya ein und belästigen die Bewohner; Soldaten weigern sich, gegen die Siedler vorzugehen und lassen sie gewähren:

2. Die Familie Sumarin

Nach einem 30jährigen Rechtsstreit ordnet ein israelisches Gericht die Zwangsenteignung der Familie Sumarin an: Sie müssen ihr Jerusalemer Zuhause, das ihre Vorfahren noch vor der isr. Staatsgründung bauten, verlassen und an den Jewish National Fund, der es an illegale Sielder übergeben wird, überlassen. Die 18köpfige Familie wird in weniger als 40 Tagen obdachlos sein. Das entbehrt nicht nur jeder Moral, es ist auch völkerrechtswidrig. Zu unserem Erstaunen ist ein deutschsprachiger Artikel darüber in der FAZ erschienen: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/israelische-behoerden-enteignen-palaestinensischen-besitz-16848652.html?GEPC=s74

Ein ausführlicherer Bericht (auf Englisch) ist hier zu finden: https://www.middleeasteye.net/news/israel-palestinian-family-jerusalem-eviction-settlement-expropriation?fbclid=IwAR24HehdlFTB-eiu9RUXvBMnB6NfziRUDgvAHT0Yj9riDqVFuMLsQnSNKFg

Familie Sumarin

3. Teile und Herrsche:

Ein spezielles interaktives Projekt zeigt eindrucksvoll, wie Israel den palästinensischen Raum sowie pal. Leben fragmentiert: https://t.co/0zNoN63A6t?amp=1

Annexion

Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags beurteilt die Politik gegenüber Palästinenserinnen und Palästinensern als weitgehend völkerrechtswidrig: https://www.heise.de/tp/features/Annexion-des-Westjordanlandes-haette-fuer-Israel-weitreichende-Folgen-4838979.html

Ein kurzer Artikel zum Thema Annexion von Yakov M. Rabkin:
“Diejenigen, die vor einer Annexion warnten, führten ins Feld, dass es jede Aussicht auf eine Zweistaaten-Lösung, mit anderen Worten einen palästinensischen Staat neben Israel, zunichtemachen würde. Ein Palästinenser witzelte kürzlich, dass man nichts töten könne, was bereits tot sei. […]
Frühere Annexionen fanden 1980 und 1981 statt und wurden auf das besetzte Land in und rund um Jerusalem bzw. die Golanhöhen angewandt. Die Vereinigten Staaten erkannten diese Annexionen erst 2019 an, während der Rest der Welt sie weiterhin als illegal betrachtet. Doch im Gegensatz zu den westlichen Sanktionen gegen Russlands Übernahme der Krim hatten diese einseitigen Maßnahmen keine großen Kosten für Israel zur Folge. Israel wurde keinen wirtschaftlichen und politischen Sanktionen unterworfen, und militärische Ausrüstung strömte aus den großen westlichen Staaten weiterhin nach Israel, darunter auch aus Deutschland, während Israel seine Bande mit der NATO sogar noch enger knüpfte. Mehr noch — Israel exportiert erfolgreich raffinierte, in Jerusalem hergestellte High-Tech-Produkte und edle Weine aus den Golanhöhen mit dem Etikett „Made in Israel“. Kampagnen zum Boykott solcher israelischer Produkte wurden geächtet oder anderweitig kaltgestellt.”

Vollständiger Artikel (deutsch) unter: https://www.nachdenkseiten.de/?p=62763

Einladung zu einer spannenden Online-Diskussion zum Thema Annexion am 13.07.2020:

Am Montag, 13. Juli, laden Palästina Spricht, die Jüdische Stimme und die LINKE Berlin International zu einem Treffen zur aktuellen Situation in Netanjahus Israel ein. Wie kann Netanjahu Gebiete annektieren, von denen mehrere UN-Resolutionen behaupten, sie seien ein legaler Teil Palästinas? Wie überschneidet sich militärische Gewalt in den besetzten Gebieten mit unkontrollierter rassistischer Polizeigewalt in der ganzen Welt? Und warum ist es immer noch so schwierig, innerhalb Deutschlands über die Rechte der Palästinenser zu sprechen?
Ihr seid eingeladen, an unserer Diskussion darüber teilzunehmen, wie wir eine internationale Bewegung in Solidarität mit den Opfern von Rassismus und Unterdrückung in der Region aufbauen können. Wir freuen uns auf die Debatte.

Das Event wird unter https://www.theleftberlin.com/palestine-solidarity-germany gestreamt. Montag, 13.07.2020 ab 19:30 bis 21:30Uhr (https://www.facebook.com/events/1648593165292105/)

Ab dem 1. Juli könnte Israel alle bestehenden Siedlungen im Westjordanland sowie das gesamte Jordantal annektieren. Dies würde das Westjordanland um etwa ein Drittel seiner derzeitigen Größe verkleinern und die illegalen israelischen Siedlungen, die im Westjordanland gebaut werden, legitimieren. Trumps “Friedensplan” für den Nahen Osten wurde im Januar dieses Jahres vorgestellt, ohne dass die Palästinensischen Behörden konsultiert worden wären. Die neue Netanyahu-Gantz-Koalition fühlt sich durch diesen Plan, die Besatzung palästinensischen Landes auszuweiten, ermutigt. In den letzten Jahren hat Israel bereits große Teile Ostjerusalems & der Golanhöhen annektiert. Die Trump- und die Netanyahu-Regierung verschbrüdern sich in ihrer Politik der Unterdrückung und des Rassismus. Aber diese Politik stößt auf Widerstand. Die Black Lives Matter (BLM)-Bewegung befähigt Schwarze auf der ganzen Welt zu sagen “genug ist genug”. Und BLM (und ihre älteren Inkarnationen) hat eine lange Geschichte der Solidarität mit palästinensischen Befreiungsbewegungen. In Israel werden Proteste organisiert, aber die internationale Solidarität ist viel weniger sichtbar. Die Regierungen haben Netanjahus repressive Politik nur langsam verurteilt. Doch gerade in Deutschland wird eine sinnvolle Diskussion über diese Repression durch inflationäre Antisemitismusvorwürfe behindert.

Ein eingeladenen Diskutanten sind:
• Nora Ragab (Palästina Spricht)
• Ramsis Kilani (die LINKE)
• Shir Hever (Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost)

Rücktrittsforderungen an Felix Klein

Seit einiger Zeit hagelt es Kritik & Rücktrittsforderungen an den Antisemitismusbeauftragten Felix Klein — auch von jüdischer Seite. Nun erreichte ihn Brief jüdischer Gelehrter. Aus diesem Brief:
“>>Wir alle wissen, vielleicht, meine Damen und Herren, dass gerade der Antisemitismus aus dem linksliberalen Milieu auch mir persönlich in den letzten Wochen das Leben durchaus etwas schwerer gemacht hat. Aber auch wenn rechte Erzählungen zur Zeit höheres Gewaltpotential haben, dürfen wir diesen Bereich nicht unterschätzen.<< Diese Aussage lehnen wir entschieden ab. Sie werden nicht von „linksliberalen Antisemiten“ schikaniert, sondern Juden und Nichtjuden protestieren gegen die Art und Weise, in der Sie den Kampf gegen Antisemitismus missbräuchlich einsetzen („weaponizing“) — auf Kosten der Redefreiheit und grundlegender Bürgerrechte und im Endeffekt auch der Bekämpfung von Antisemitismus selbst. Sie für Äußerungen und Handlungen in Ihrer offiziellen Funktion zur Rechenschaft zu ziehen, Herr Klein, ist kein Antisemitismus. Das ist das Wesen der Demokratie.” Der vollständige Brief ist hier nachzulesen: https://www.facebook.com/12juedischestimme/posts/3208856242509919?__cft__[0]=AZVG2N6mraDE_asJ8yKDS4j3-L55Hev3SZTs8cit_NNnzWLeM-Ivr_N-2TLN0mrHKjE64F8zlGYT-_0w0lCDzrSG93lilT_Q5ukL_CrVO1lqJcOdEjaBLa5gcYubDZcsfclCbG8X9e42sdQ9dMarB3eZheVPTjR6xhwiQGWeRRD6OTkVYq91O2-uShmIiGrX8ucKVMbB6DSfcsmWP-G2dzAU&__tn__=%2CO%2CP-R

Kampagnen

Jubiläum — BDS wird von 15 Jahre alt. Aus diesem Anlass: Warum sollte man die BDS-Kampagne unterstützen? Und wie kann man die Palästinenserinnen und Palästinenser unterstützen? http://bds-kampagne.de/2020/06/23/bds-15-fuenfzehn-moeglichkeiten-unseren-kampf-fuer-freiheit-gerechtigkeit-und-gleichheit-zu-unterstuetzen/

Worum es bei BDS überhaupt geht: http://bds-kampagne.de/aufruf/aufruf-der-palstinensischen-zivilgesellschaft/

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