“Wer kein Zuhause hat, dem gehören alle Häuser”
Ein exklusiver Beitrag von Lena, die hier direkt aus dem Westjordanland für Occupied News berichtet
Wenn es eine Stadt im besetzten Westjordanland gibt, in der man — in engen Grenzen und auch dann nur zeitweise — vergessen kann, dass sie unter Militärbesatzung steht, dann ist es Ramallah, die faktische Hauptstadt der sogenannten „Palästinensischen Autonomiegebiete“. Hier ist der Sitz der Regierung , alle Ministerien, die Vertretungsbüros und Botschaften, die meisten NGOs sind hier, Kultureinrichtungen und Freizeitmöglichkeiten. Am vergangenen Donnerstag morgen, zersprang diese Illusion einer Autonomie mit einem Knall. In der Altstadt Ramallahs, wenige hundert Meter von Ministerien und Botschaften entfernt, räumte die israelische Besatzungsmacht ein ganzes Wohnviertel und sprengte die Wohnung der Familie Faroukh. In der über mehr als acht Stunden andauernden Militäroperation werden mindestens sechs Personen so schwer verletzt, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen, darunter ein Journalist, der durch einen Schuss in den Kopf schwer verletzt wird.
Kollektivstrafe statt Unschuldsvermutung
Der 27 Jahre alte Islam Faroukh wurde am 29.11. letzten Jahres in Ramallah verhaftet, wo er gemeinsam mit seinen vier Schwestern und seinen Eltern in einer Wohnung lebt. Nach einem Monat erfährt die Familie, dass ihm zwei Bombenanschläge auf Bushaltestellen im westlichen Teil Jerusalems und einer völkerrechtswidrigen Siedlung in Ostjerusalem im November 2022 vorgeworfen werden. Bei den Anschlägen wurden zwei jüdische Israelis getötet und mindestens 14 Menschen verletzt [1]. Islam Faroukhs Schwester Afnan betont, dass das Verfahren weiter läuft und es bis jetzt noch kein rechtskräftiges Urteil gibt. Im Interview mit Al Araby erklärt sie: „Trotzdem haben sie entschieden, dass sie Islam schaden und eine kollektive Bestrafung der ganzen Familie durchführen werden, eine Bestrafung der Familie, von Verwandten, Nachbarn allen. Sie haben Angst in die kleinen Kinder gepflanzt“. Islams Vater erklärt: „Wir sind uns sicher, dass er unschuldig ist“ [2]. Islams Schwester bemerkt gegenüber Occupied News: „Aus dem Tatvorgang, der in der Anklageschrift behauptet wird, lässt sich vielleicht ein Bollywoodfilm machen, aber niemand, der die Anklage liest kann glauben, dass ein Mensch dazu in der Lage sein könnte“. Doch für Palästinenser:innen unter der Militärgesetzgebung der Besatzung gibt es keine Unschuldsvermutung. Umso weniger, wenn ihnen vorgeworfen wird an militanten Aktionen und Anschlägen beteiligt zu sein.
Laut Aussage von Afnan befindet sich ihr Bruder seit fünf Monaten in Isolationshaft, er darf nicht telefonieren und jeder Kontakt zu Mithäftlingen wird ihm verwehrt. Die ersten 30 Tage lang wurde er durchgehend befragt, wobei auch Folter durch Schlafentzug angewandt wurde: „Die ersten drei Tage verboten sie ihm zu schlafen und er wurde über mehr als 48 Stunden hinweg durchgängig ohne Pause befragt. Er musste dafür bewegungslos auf einem Stuhl sitzen. Sie verboten ihm jede Erholung, es gab keinen Schlaf, keine Pause“.
Häuser und Wohnungen von Familienangehörigen zu zerstören ist seit langem gängige Praxis, tausende Palästinenser:innen verloren so ihr Zuhause. Häuserzerstörungen als Mittel der Kollektivstrafe wird von Menschrechtsorganisationen wie B´Tselem als „unmoralische und rechtswidrige Praxis“ verurteilt: „Der Abriss von Häusern als eine Form der kollektiven Bestrafung ist eine der extremsten Maßnahmen, die Israel im Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, seit Beginn der Besatzung im Jahr 1967 (und bis 2005 im Gazastreifen) ergriffen hat. Im Laufe der Jahre hat Israel im Rahmen dieser Politik Hunderte von Häusern abgerissen und damit Tausende von Palästinenser:innen obdachlos gemacht. Die Politik des Strafabrisses von Häusern zielt per definitionem darauf ab, Menschen zu schaden, die nichts falsch gemacht haben und die keines Fehlverhaltens verdächtigt werden [3].
Die Nakba hat nie geendet
Während die palästinensischen Behörden über die Invasion im Vorfeld informiert wurden, kam der genaue Zeitpunkt des Überfalls für die betroffenen Familien überraschend. Islams Schwester Afnan Faroukh beschreibt gegenüber dem Journalisten Fadi Alassa von Al Araby: „Wir wussten, dass sie jeden Augenblick kommen können. Wann genau? Das wussten wir nicht. Wir haben zwei Monate lang in Angst geschlafen, Nachts sind wir immer wieder aufgewacht und haben auf unseren Handys die Nachrichten geprüft: Stürmen sie jetzt? Stürmen sie nicht? Wann kommen sie? Wir wussten es nicht. Als sie dann kamen, war das natürlich ganz plötzlich, ohne jede Ankündigung“.
Über mehr als acht Stunden hinweg, von 22.30 Uhr abends bis zur Sprengung gegen 6.45 Uhr am Morgen, zog sich die großangelegte Militäroperation, wie Bewohner:innen des Hauses auf Nachfrage von Occupied News bestätigen. Die Wohnung der Familie Faroukh liegt in einem vierstöckigen Wohnhaus in der Altstadt von Ramallah. Alle Familien aus dem betroffenen Haus wurden aus dem Haus vertrieben, es ist zunächst nicht klar, ob die anderen Wohnungen nach der Sprengung bewohnbar sein werden oder nicht. Eine Bewohnerin erinnert sich: „Sie sagten ‚Geht weg! Geht weg!‘ Als ich sie fragte wohin, meinten sie, ‚Egal wohin, verschwindet!‘“. Nachbarn öffneten ihnen die Türen und boten ihnen an bei ihnen zu schlafen. „Jeder war für jeden da“, erinnert sich die Bewohnerin, doch dann werden auch die Nachbarn von Soldat:innen aus den Häusern vertrieben. Auf den Dächern der geräumten Häuser werden Scharfschützen positioniert, auch direkt gegenüber des Deutschen Vertretungsbüros, erklärt uns ein Anwohner bei einem Besuch vor Ort. Islams Schwester Afnan erinnert sich: „Nach 75 Jahren waren es plötzlich wieder Bilder wie bei der Nakba“.
Das wirkliche Wahrzeichen Ramallahs
Die Wohnung gilt jetzt als geschlossene Militärzone, noch ist unklar für wie lange. Die Bewohner:innen rechnen mit ca. 6 bis 10 Jahren in denen die Wohnung bleiben muss wie sie ist, keine Schäden behoben oder ausgebessert werden dürfen. Eine Bewohnerin des Hauses erklärt gegenüber Al Araby: „Das ganze Haus ist von der Explosion betroffen, nicht nur seine Wohnung. Aber so ist die Lage für das ganze palästinensische Volk, nicht nur für uns alleine. Wir sind nicht die ersten, denen es so ergeht und wir werden nicht die letzten sein“. Dennoch verlieren sie nicht den Mut. Nur einen Tag nach der Zerstörung der Wohnung feiert Islams kleine Schwester ihren 9. Geburtstag. Sie besteht darauf, in ihrem alten Zuhause zu feiern. Und so steht sie da, zwischen Staub, zerborstenem Beton und herunterhängenden Leitungen und nimmt ihre mit Blumen geschmückte Torte in Empfang. Eine Bewohnerin erklärt uns: „Sie denken, dass sie uns damit Angst machen, aber ganz im Gegenteil. Wir lachen ihnen ins Gesicht“.
Und Islams Schwester Afnan macht im Interview deutlich: „In sechs Stunden haben sie unsere Träume zertrümmert, unsere Erinnerungen. Wir stehen hier im Wohnzimmer, hier haben wir Gäste empfangen. Und jetzt empfangen wir hier Journalist:innen. Wir heißen jeden willkommen, der kommen will um zu sehen, was sie mit dem Haus gemacht haben. Ich sage den Leuten, besucht nicht das Museum von Mahmoud Darwish, kommt und schaut euch unser Haus an. Dieses Haus ist nur ein kleines Beispiel für das Leiden des ganzen palästinensischen Volkes seit über 75 Jahren“. Und sie zitiert ein palästinensisches Sprichwort: „Wer kein Zuhause hat, der hat ein Recht auf alle Häuser. Und denjenigen, denen ihr Recht verweigert wird, gehört die Welt“.
Die Kollaboration der Autonomiebehörde mit der Kolonialmacht
Obwohl es erst wenige Stunden her ist, dass sie von Soldat:innen aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, und die Spuren der Explosion noch überall zu finden sind, werden wir herzlich empfangen. Auch wenn sie kein Zuhause mehr haben, haben sie es natürlich geschafft, den obligatorischen Tee mit Salbei und arabischen Kaffee zu unserer provisorischen Sitzgruppe, direkt neben der zerstörten Wohnung, zu bringen. Als wir fragen, wo die palästinensischen Behörden waren, als die israelische Armee kam, lachen sie nur: „Die haben sich versteckt“. Am nächsten Tag, als nur noch die Trümmer auf den Straßen und das klaffende Loch dort, wo einmal der erste Stock gewesen war, an die Armee erinnerten, kamen Vertreter:innen der Autonomiebehörde. Die sogenannte „Sicherheitskoordination“ zwischen kolonialer Besatzungsmacht und der Autonomiebehörde als ihrer Verwalterin, sie funktioniert. Fliehende palästinensische Sicherheitskräfte, die über eine bevorstehende Invasion durch israelische Soldat:innen gewarnt werden, sind in Nablus und Jenin zu einer Art Frühwarnsystem für die Bevölkerung geworden.
Unterdessen nahm die palästinensische Bevölkerung die Invasion nicht einfach hin, die ganze Nacht über versuchten sie das Viertel mit Steinen und Molotowcocktails zu verteidigen, die Armee setzt Tränengas, mit gummiummantelte Stahlgeschosse und scharfe Munition ein. Mindestens sechs Personen müssen über Nacht medizinisch behandelt werden, drei von ihnen wurden durch scharfe Munition verwundet [4].
Schüsse auf die Pressefreiheit
Unter den Getroffenen ist auch der 22-jährige palästinensische Fotojournalist Momen Samreen. Er wurde durch ein israelisches gummiumhülltes Stahlgeschoss schwer am Kopf verletzt [5]. Nach Angabe seines Onkels Mohammed Samreen, ebenfalls Journalist, stand Momen gemeinsam mit Kollegen auf einem Hausdach, um den Überfall der israelischen Armee zu dokumentieren, als ihn ein gummiumhülltes Stahlgeschoss am Kopf traf. Durch eine Weste mit der Aufschrift „Presse“ und einen Helm war er eindeutig als Journalist gekennzeichnet [6]. Auch wenn die israelische Armee ein weiteres Mal unter Beweis stellte, dass ihr eine Presseweste eher als Zielscheibe, denn als Grund zur Zurückhaltung dient, war es vermutlich der Pressehelm, der Momen das Leben rettete. Die Wucht des Einschlags verursachte einen Schädelbruch und Hirnblutungen. Sein Zustand sei stabil, er habe allerdings weiter mit Symptomen wie Verwirrung, Schläfrigkeit und Übelkeit zu kämpfen, erklärte der behandelnde Neurochirurg Dr. Fadel Betran.
Auch der Fotojournalist Rabea Monir wurde durch ein von der israelischen Armee abgefeuertes gummiummanteltes Stahlgeschoss in den Unterleib getroffen, während er seiner Arbeit nachging. Auch wenn diese Geschosse, wie auch Tränengas, Blendgranaten oder Schwammpatronen von Israel zu den „nicht tödlichen“ Waffen gezählt werden, hat ihr Einsatz durch die Besatzungsarmee immer wieder tödliche Folgen [7].
Laut dem palästinensischen Informationsministerium sind alleine im Mai diesen Jahres 52 Angriffe auf palästinensische Journalistinnen und Journalisten durch Israel dokumentiert, darunter mehrere Fälle in denen direkt auf Journalist:innen geschossen wurde [8]. Seit 2001 wurden mindestens 20 Journalist:innen durch die israelische Armee getötet. In keinem der Fälle wurden die für die Tötung verantwortlichen Personen vor Gericht gestellt [9].
Nach der Invasion
Als Ramallah am 8. Juni erwacht, hat die Familie Faroukh, Vater, Mutter und vier Töchter, kein Zuhause mehr. Nicht nur ihre Wohnung ist zerstört, sondern auch zahlreiche Fenster in umliegenden Häusern zersprungen, Wassertanks durchlöchert, Solaranlagen gesplittert und Autos beschädigt [10]. Drei Ladungen der Explosion detonieren nicht und verbleiben im Gebäude, sie werden später durch palästinensische Sicherheitskräfte entfernt. Als die Armee abgezogen ist, nehmen diejenigen, die die ganze Nacht über versucht haben, das Viertel zu verteidigen, erneut Steine in die Hand. Diesmal um aufzuräumen. Eine Anwohnerin erinnert sich: „Die, die gerade noch Steine geworfen haben, trugen die Steine von der Straße, räumten die Wege freie, kehrten den Staub weg. In einer Stunde war alles sauber“.
Quellen
1 https://www.aljazeera.com/news/2023/6/10/collective-punishment-israel-demolishes-palestinian-homes
2 https://www.aljazeera.com/news/2023/6/10/collective-punishment-israel-demolishes-palestinian-homes
3 https://www.btselem.org/punitive_demolitions
4 https://www.theguardian.com/world/2023/jun/08/palestinian-journalist-hit-in-the-head-by-bullet-during-raid-on-terror-suspects-home
5 Vereinzelt ist davon die Rede, dass er von scharfer Munition getroffen wurde, etwa in einem Update des International Middle East Media Center (https://imemc.org/article/army-detonates-home-injured-six-palestinians-including-a-journalist-in-ramallah/). Das scheint allerdings auf einem Übersetzungsfehler zu beruhen, in dem erwähnten Interview mit Dr. Fadel Al-Batran ist eindeutig von einem gummiummantelten Stahlgeschoss die rede
6 https://www.theguardian.com/world/2023/jun/08/palestinian-journalist-hit-in-the-head-by-bullet-during-raid-on-terror-suspects-home
7 https://mondoweiss.net/2017/08/bullets-israels-munitions/
8 https://english.wafa.ps/Pages/Details/136213
9 https://cpj.org/reports/2023/05/deadly-pattern-20-journalists-died-by-israeli-military-fire-in-22-years-no-one-has-been-held-accountable/
10 https://www.aljazeera.com/news/2023/6/10/collective-punishment-israel-demolishes-palestinian-homes