“Wir sind die größte Menschenrechtsgruppe Israels — und wir nennen das Apartheid” — Ein Spotlight

Occupied News
6 min readJan 19, 2021

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Israel und die Frage der Apartheid: Nachdem letztes Jahr eine der größten israelischen Menschenrechtsorganisationen, Yesh Din, in einem Bericht Israel als Apartheidsstaat bezeichnete, tut dies nun auch die größte Menschenrechtsvereinigung B’tselem. Letzte Woche erschien deren Report. Außerdem veröffentliche ihr Geschäftsführer den Artikel “We are Israel’s largest human rights group — and we are calling this apartheid” in der britischen Zeitung “the Guardian”. Wir haben ihn für euch ins Deutsche übersetzt.

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“Der heutige Rettungsschwimmer ist nicht jüdisch” — so warnte im August 2020 das öffentliche Schwimmbad Tzipori seine Besucher.

“Die systematische Förderung der Vorherrschaft einer Gruppe von Menschen über eine andere ist zutiefst unmoralisch und muss beendet werden.

Man kann nicht einen einzigen Tag in Israel-Palästina leben, ohne das Gefühl zu haben, dass dieser Ort permament so gestaltet ist, dass ein Volk, und nur ein Volk, privilegiert ist: das jüdische Volk. Doch die Hälfte der Menschen, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben, sind Palästinenser. Die Kluft zwischen diesen gelebten Realitäten ist in der Luft wahrnehmbar, „blutet“ und ist überall in diesem Land.

Ich beziehe mich dabei nicht einfach auf offizielle Erklärungen, die dies so formulieren — und davon gibt es viele, wie z. B. die Behauptung von Premierminister Benjamin Netanjahu im Jahr 2019, dass “Israel kein Staat aller seiner Bürger ist”, oder das “Nationalstaat”-Grundgesetz, das “die Entwicklung der jüdischen Siedlung als nationalen Wert” festschreibt. Worauf ich hinaus will, ist ein tieferes Gefühl: dass Menschen erwünscht oder unerwünscht sind und ein Verständnis für mein Land, dem ich seit dem Tag meiner Geburt in Haifa schrittweise ausgesetzt bin. Jetzt ist es eine Erkenntnis, der man nicht mehr ausweichen kann.

Obwohl es eine demographische Parität zwischen den beiden hier lebenden Völkern gibt, wird das Leben so gehandhabt, dass nur die eine Hälfte die große Mehrheit der politischen Macht, der Landressourcen, der Rechte, der Freiheiten und des Schutzes genießt. Es ist ein ziemliches Kunststück, eine solche Entmündigung aufrechtzuerhalten. Noch dazu, es erfolgreich als eine Demokratie zu „verkaufen“ (innerhalb der “grünen Linie” — der Waffenstillstandslinie von 1949), an die eine vorübergehende Besatzung angehängt ist. In Wirklichkeit regiert eine Regierung jeden und alles zwischen dem Fluss und dem Meer, die überall unter ihrer Kontrolle dem gleichen Organisationsprinzip folgt und daran arbeitet, die Vorherrschaft einer Gruppe von Menschen — den Juden — über eine andere — den Palästinensern — zu fördern und aufrechtzuerhalten. Das ist Apartheid.

Straßenapartheid im besetzten Al Khalil (Hebron). Anlässlich eines jüdischen Feiertages werden die Straßen geteilt. Palästinenser müssen in Al Khalil den kleinen Bürgersteig nutzen, Siedler bekommen den großen. 13.11.2020. Via Christian Peacemaker Teams Palestine

Es gibt keinen einzigen Quadratzentimeter in dem von Israel kontrollierten Gebiet, in dem ein Palästinenser und ein Jude gleichberechtigt sind. Die einzigen Menschen erster Klasse hier sind jüdische Bürger wie ich, und wir genießen diesen Status sowohl innerhalb der Grenzen von 1967 als auch jenseits davon, in der Westbank. Getrennt durch die verschiedenen persönlichen Stati, die ihnen zugewiesen wurden, und durch die vielen Variationen der Minderwertigkeit, denen Israel sie unterwirft, sind die Palästinenser, die unter Israels Herrschaft leben, dadurch vereint, dass sie alle ungleich sind.

Anders als die südafrikanische Apartheid vermeidet unsere bestimmte Arten von Hässlichkeiten — Apartheid 2.0, wenn man so will. Sie werden keine “Whites only”-Schilder auf Bänken finden. Hier geht es um den “Schutz des jüdischen Charakters” einer Gemeinde — oder des Staates selbst — einer der dünn verschleierten Euphemismen, mit denen versucht wird, die Wahrheit zu verschleiern. Doch die Essenz ist die gleiche. Dass Israels Definitionen nicht von der Hautfarbe abhängen, macht keinen wesentlichen Unterschied: Im Kern ist es die Realität von Vorherrschaft, die besiegt werden muss.

Bis zur Verabschiedung des Nationalstaatsgesetzes schien die wichtigste Lektion, die Israel aus dem Ende der südafrikanischen Apartheid gelernt hatte, darin zu bestehen, zu explizite Aussagen und Gesetze zu vermeiden. Diese könnten das Risiko moralischer Verurteilung mit sich bringen — und schließlich, Gott bewahre, reale Konsequenzen. Stattdessen neigt die stille, geduldige und allmähliche Anhäufung von diskriminierenden Praktiken dazu, Konzequenzen von der internationalen Gemeinschaft zu verhindern, besonders wenn man bereit ist, Lippenbekenntnisse zu ihren Normen und Erwartungen abzugeben.

So wird die jüdische Vorherrschaft auf beiden Seiten der grünen Linie erreicht und angewendet.

Wir gestalten demographisch die Zusammensetzung der Bevölkerung, indem wir daran arbeiten, die Zahl der Juden zu erhöhen und die Zahl der Palästinenser zu begrenzen. Wir erlauben die jüdische Migration — mit automatischer Staatsbürgerschaft — an jeden Ort, den Israel kontrolliert. Für Palästinenser ist das Gegenteil der Fall: Sie können nirgendwo einen persönlichen Status erlangen, wo Israel kontrolliert — selbst wenn ihre Familien von hier stammten.

Wir demonstrieren Macht durch die Zuteilung — oder Verweigerung — von politischen Rechten. Alle jüdischen Bürger dürfen wählen (und alle Juden können Bürger werden), aber weniger als ein Viertel der Palästinenser unter Israels Herrschaft haben die Staatsbürgerschaft und können somit wählen. Am 23. März, wenn die Israelis zum vierten Mal in zwei Jahren wählen gehen, wird es keine “Feier der Demokratie” sein — wie Wahlen oft genannt werden. Vielmehr wird es ein weiterer Tag sein, an dem entrechtete Palästinenser zusehen, wie ihre Zukunft von anderen bestimmt wird.

Wir kontrollieren die Ländereien, indem wir riesige Landstriche der Palästinenser enteignen und sie „unbrauchbar“ machen — oder diese benutzen, um jüdische Städte, Stadtteile und Siedlungen zu bauen. Innerhalb der grünen Linie haben wir dies seit der Staatsgründung 1948 getan. In Ost-Jerusalem und im Westjordanland haben wir das seit Beginn der Besatzung 1967 so gehandhabt. Das Ergebnis ist, dass palästinensische Gemeinden — überall zwischen dem Fluss und dem Meer — mit der Realität von Abriss, Vertreibung, Verarmung und Überbevölkerung konfrontiert sind, während die gleichen Landressourcen für neue jüdische Entwicklungen zugewiesen werden.

Und wir steuern — oder besser gesagt, schränken — die Bewegungsfreiheit der Palästinenser ein. Die Mehrheit, die weder Staatsbürger noch Einwohner ist, ist auf israelische Genehmigungen und Checkpoints angewiesen, um in und zwischen den Gebieten zu reisen, sowie um international zu reisen. Für die zwei Millionen im Gaza-Streifen sind die Reisebeschränkungen am strengsten — dies ist nicht nur ein Bantustan, denn Israel hat es zu einem der größten Freiluftgefängnisse der Erde gemacht.

Haifa, meine Geburtsstadt, war bis 1948 eine binationale Realität der demographischen Parität. Von etwa 70.000 Palästinensern, die vor der Nakba in Haifa lebten, waren danach weniger als ein Zehntel übrig. Seitdem sind fast 73 Jahre vergangen, und jetzt ist Israel-Palästina eine binationale Realität der demographischen Parität. Ich bin hier geboren. Ich will — und ich beabsichtige — hier zu bleiben. Aber ich will und verlange auch in einer ganz anderen Zukunft zu leben.

Die Vergangenheit ist geprägt von Traumata und Ungerechtigkeiten. In der Gegenwart kommen noch mehr Ungerechtigkeiten dazu. Die Zukunft muss radikal anders sein — eine Ablehnung von Vorherrschaft, aufgebaut auf einem Engagement für Gerechtigkeit und unsere gemeinsame Menschlichkeit. Die Dinge bei ihrem richtigen Namen zu nennen — Apartheid — ist kein Moment der Verzweiflung: Es ist vielmehr ein Moment moralischer Klarheit, ein Schritt auf einem langen Weg, der von Hoffnung getragen ist. Sehen Sie die Realität als das, was sie ist, benennen Sie sie, ohne mit der Wimper zu zucken — und helfen Sie mit, die Verwirklichung einer gerechten Zukunft herbeizuführen.”

Artikel von Hagai El-Ad, israelischer Menschenrechtsaktivist & Geschäftsführer von B’Tselem. (Englischer Originaltext: https://www.theguardian.com/commentisfree/2021/jan/12/israel-largest-human-rights-group-apartheid)

Hinweis von Occupied News: Letzte Woche hat die israelische Menschenrechtsorganisation B’tselem einen Bericht veröffentlicht, in dem aufgezeigt wird, dass Israel ein Apartheids-Regime zwischen dem Mittelmeer & Jordan errichtet hat. Diesen Berichtet findet man hier:

Eine deutschsprachige Zusammenfassung des Berichtes von B’tselem findet man hier:

Weiterführende Informationen zum Thema Israel & Apartheid einschließlich des eingangs erwähnten Berichts von Yesh Din sowie eines Berichtes der UN aus dem Jahr 2017 ( „Fern jedes vernünftigen Zweifels, belegen die Beweise, dass Israel schuldig ist, ein Apartheidregime gegen das palästinensische Volk errichtet zu haben.“) findet ihr auf unserem Blog hier:

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